Sprach-Kitas bleiben erhalten
Große Freude in Lübbener und anderen Sprach-Kitas: Das auslaufende Bundesprogramm wird durch das Land fortgeführt. Die damit beendete Unsicherheit über ein hoch wirksames Förderinstrument war auch Ausdruck eines politischen Gerangels auf Bund-Länder-Ebene.
Von Dörthe Ziemer
„Am besten wäre, das Programm würde genauso fortgesetzt werden“, sagte Annett Höltke, Leiterin der AWO-Kita „Sonnenkinder“ in Lübben, gestern. Heute steht fest: Es wird genauso fortgesetzt. Das teilte das Bildungsministerium am Vormittag mit. Viele Monate war unklar, wie es mit dem Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ weitergeht. Bundesweit ist etwa jede 8. Kita eine Sprach-Kita. Davon profitieren nach Aussage des Bundesfamilienministeriums mehr als 500.000 Kinder und ihre Familien. In Brandenburg gibt es mehr als 200 Sprach-Kitas, in Dahme-Spreewald sind es acht. Das Programm verbinde alltagsintegrierte sprachliche Bildung, inklusive Pädagogik und die Zusammenarbeit mit Familien. Für jede Sprach-Kita gibt es eine zusätzliche Fachkraft, die im Verbund von einer externen Fachberatung begleitet wird.
Sprachförderung vor Ort
Wie sehr die Kinder davon profitieren, zeigt sich vor Ort, beispielsweise in der Kita „Sonnenkinder“ in Lübben: Große Wimmelbilder hängen – je nach Jahreszeit – in den Gruppenräumen. Sie bieten jederzeit Gesprächsanlässe über Wettererscheinungen, Tiere, Freizeitaktivitäten, Gefühle und mehr. Derzeit hängen noch die Herbstbilder. Wenn die Winterbilder an der Reihe sind, rollt Nadine Gräbitz, Fachkraft für sprachliche Bildung, das neue Bild von oben herab auf das andere aus, sodass jahreszeitliche Erscheinungen besonders deutlich und manche Details intensiver sichtbar werden. Dazu gibt es auf Kärtchen kleine Ausschnitte aus dem Bild: ein Hund am Wasser, ein weinendes Kind, geschnitzte Kürbisse. „Damit lasse ich die Kinder zum Beispiel alle Vierbeiner auf dem Bild suchen. Oder ich frage sie, warum das Kind wohl weint“, berichtet Nadine Gräbitz. So werden die Kinder zum Sprechen und zur Reflexion über ihre Beobachtungen angeregt.
Wimmelbilder bieten Erzählanlässe: So unterstützt Nadine Gräbitz Kinder beim Spracherwerb.
Foto: Dörthe Ziemer
Auch während der Spielzeiten suchen die Kinder gern das Bild auf und erzählen sich gegenseitig, was davon sie in ihrem Alltag wiederfinden: Welche Tiere bei ihnen zu Hause leben, was sie in der Freizeit unternehmen und mehr. „Das ist auch für die ruhigeren Kinder eine schöne Gelegenheit, ins Sprechen zu kommen“, berichtet Nadine Gräbitz. In den Garderoben haben alle Kinder ein Bild von sich und ihren Namen an ihrem Platz. „So prägen sie sich das Schriftbild zu ihren und den anderen Namen ein“, erläutert die Fachkraft. Größere Kinder können kleineren helfen, weil sie wissen, wessen Sachen wohin gehören. Im Morgenkreis und im Erzählkreis lernen die Kinder, sich gegenseitig zuzuhören und den anderen ausreden zu lassen. „Warten, bis man dran ist, das müssen Kinder lernen“, sagt Nadine Gräbitz.
„Sprache betrifft alle Bildungsbereiche.“
Annett Höltke, Leiterin der Kita „Sonnenkinder“ Lübben.
Wichtig sei, betonen Annett Höltke und Nadine Gräbitz, dass die Beschäftigung mit Sprache überall im Kita-Alltag stattfindet. „Sprache betrifft alle Bildungsbereiche“, sagt die Kita-Leiterin. Für diese Arbeit konnten über das Bundesprogramm seit 2016 zahlreiche Materialien angeschafft werden. Auch die Fachkraft und Weiterbildungen für die Erzieher werden über das Programm bezahlt, ebenso wie die Arbeit mit den Eltern. Diese wird in der Kita „Sonnenkinder“ als wesentlicher Baustein angesehen. „Eltern haben heutzutage wenig Zeit, deshalb wollen wir ihnen Anregungen geben, wie sie diese Zeit mit ihren Kindern intensiv nutzen können“, sagt Nadine Gräbitz. Das beginne im Kinderwagen, wo man mit den Kindern Augenkontakt haben und ihnen Dinge in der Umgebung zeigen und erklären sollte, und ende in der Handy-freien Zone im Garderobenbereich der Kita und mit viel Redezeit beim Abendessen oder Zubettgehen.
„Eine Tüte voll Zeit“ zu Weihnachten
Deshalb gibt es für die Eltern der größeren Kinder zu Weihnachten kein gegenständliches Geschenk, sondern „eine Tüte voll Zeit“, erzählt Annett Höltke. Darin befindet sich ein von den Kindern gestaltetes Bilderbuch: eine Geschichte, die die Kinder anhand der Bilder selbst nacherzählen können. Neben der Familienarbeit sei auch der Austausch mit anderen Fachkräften und Erziehern wichtig, betonen beide: „Manchmal sind es die kleinen Dinge, die man umsetzten kann und die eine große Wirkung haben“, erzählt Nadine Gräbitz: etwa, das jahreszeitlich neue Wimmelbild langsam aufzurollen um die Aufmerksamkeit auf Details zu lenken, oder Bücher in Greifhöhe bereitzustellen.
Kita-Leiterin Annett Höltke (l.) und Sprach-Fachkraft Nadine Gräbitz. Foto: Dörthe Ziemer
Dass der Förderbedarf groß ist, haben Annett Höltke und ihre Kolleginnen schon vor Jahren festgestellt. Das Programm erstreckt sich deshalb auf alle Kinder der Integrationskita „Sonnenkinder“, egal, ob sie einen Integrationsbedarf haben, einen Migrationshintergrund und damit nicht Deutsch als Muttersprache oder nicht. „Wir haben Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen und Kinder mit Verzögerungen in der Sprachentwicklung“, berichtet die Kita-Leiterin. Manche Kinder verfügen über einen kleinen Wortschatz, andere haben eine undeutliche Aussprache oder Schwierigkeiten dabei, über sich selbst zu sprechen und ihre Gefühle zu äußern. Hier setzt das Programm an. Evaluationen, Zwischenberichte, Expertenstimmen bis hin zu Politikermeinungen aus mehreren Richtungen zeigen die Wirksamkeit der gezielten Sprachförderung.
Lange Diskussion um Zuständigkeit
So überzeugend das Programm und seine Wirkung sind, so heftig wurde in diesem Jahr über die Fortsetzung diskutiert. Das Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ startete am 1. Januar 2016. Das Vorgängerprogramm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ gab es seit 2011. Planmäßig sollte das aktuelle Programm am 31.12.2022 enden, es wird nun bis 30. Juni 2023 verlängert. „Modell- und Förderprogramme des Bundes müssen immer zeitlich begrenzt sein“, teilte die Pressestelle des Bundesfamilienministeriums auf Wokreisel-Nachfrage mit. Das entspreche den Haushaltsgrundsätzen des Bundes – der Bund dürfe nicht dauerhaft fördern, was eigentlich Ländersache sei. Dazu gehört die frühkindliche Bildung. Solche modellhaften, befristeten Förderungen sollen also dazu dienen, in einem bestimmten Problemfeld Lösungen zu entwickeln, die dann dauerhaft funktionieren können. Der Bund habe das Programm auf den Weg gebracht, „um bundesweit die Aufmerksamkeit stärker auf die Bedeutung der alltagsintegrierten sprachlichen Bildung zu lenken“, heißt es in einer Mitteilung des Familienministeriums.
Bereits Anfang 2021 wurde eine Verlängerung des Programms bis Ende 2022 – und damit auch das Auslaufen zu diesem Termin – bekanntgegeben. Trotzdem muss die Überraschung über das Ende des Programms groß bei Politikern auf Landes- und Bundesebene groß gewesen sein, denn im Sommer wurde massiv Kritik am Programmende laut. Die Bundestagsabgeordnete Jana Schimke (CDU) berichtete Anfang September auf ihrer Facebookseite von ihrem Besuch in der Sprachkita in Gießmannsdorf: „Herzlicher Empfang aus traurigem Anlass: Die Ampel schafft das Programm Sprach-Kitas als eines der erfolgreichsten Bildungsangebote in Deutschlands Kitas ab. Nun herrscht Fassungslosigkeit.“ Von Verbänden, Wissenschaftlern und aus den Kitas selbst hagelte es Kritik am Auslaufen. Bund und Länder standen in Verhandlungen über die Fortführung: Die Länder forderten eine Verlängerung, der Bund blieb beim geplanten Ende.
Im Rahmen der Haushaltsdiskussionen hat der Bundestag kürzlich dem Familienministerium für die befristete Fortführung bis zum 30. Juni 2023 rund 138 Millionen Euro zusätzliche Mittel zugesprochen. „Mit der Fortschreibung des Zuschusses soll den Ländern laut Bereinigungsvorlage die Übernahme der Sprach-Kitas bis zur Umsetzung des Kita-Qualitätsgesetzes erleichtert werden“, heißt es dort. Dann ist aus Bundessicht offenbar endgültig Schluss. Über das Kita-Qualitätsgesetz werden an die Länder in den kommenden zwei Jahren 4 Milliarden Bundesmittel ausgereicht, die im Bereich Kita und frühkindliche Bildung eingesetzt werden können. Zu den sechs prioritären Handlungsfeldern gehöre auch die Sprachförderung, informiert die Pressestelle des Familienministeriums. „Der Bund stellt die Mittel bereit, damit die Länder dauerhaft Sprache fördern können“, so ein Sprecher.
„Die Länder haben es nun in der Hand, die Förderung der sprachlichen Bildung mithilfe der Bundesmittel zu verstetigen.“
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90 / Grüne)
„Die Länder haben es nun in der Hand, die Förderung der sprachlichen Bildung mithilfe der Bundesmittel zu verstetigen“, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90 / Grüne) Anfang September bei einer Debatte zum Thema im Bundestag. „Wir brauchen die Regelfinanzierung der Sprachförderung statt weiterer Modellprojekte.“ Nach Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen hat heute Brandenburg angekündigt, das Programm 2023 „aus eigenen Mitteln vollumfänglich fortsetzen“ zu wollen. Die alltagsintegrierte Sprachförderung in Brandenburger Kitas wurde zuletzt mit jährlich 6,3 Millionen Euro aus Bundesmitteln und rund 700.000 Euro als Landesanteil unterstützt.
Förderung zahlt sich aus
Die Förderung zahlt sich nach Angabe des Brandenburger Bildungsministeriums aus: Der Anteil der Kinder mit Sprachförderbedarf im Land Brandenburg lag bei der ersten flächendeckenden Datenerhebung im Jahr 2010 bei 19,7 Prozent und sank bis 2021 auf 16,1 Prozent. „Die Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der Kindheit (NUBBEK-Studie) bestätigte mit überdurchschnittlichen Ergebnissen beim Sprachverstehen und Sprachgebrauch bei Krippenkindern den Ansatz der frühkindlichen Sprachförderung“, teilt die Pressestelle mit.
Bereits zwischen 2019 und 2022 wurden den Ländern durch das Gute-Kita-Gesetz insgesamt 5,5 Milliarden Euro zu Verfügung gestellt, um sie beispielsweise im Handlungsfeld Spracherwerb auszugeben. Mecklenburg-Vorpommern hat derweil im Jahr 2020 die beitragsfreie Kita eingeführt und lobt die Maßnahme als Alleinstellungsmerkmal: „In keinem anderen Bundesland gelte die Beitragsfreiheit für alle Förderarten, also in der Krippe, im Kindergarten, für die Tagesbetreuung und im Hort in vollem Förderumfang. Das heißt, bis zu 10 Stunden täglich.“ Pro Jahr würden damit über 350 Millionen Euro in die Kindertagesförderung investiert.
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