Erinnern: Die Löcher im Kopf füllen
Am und vor dem Volkstrauertag wird in Halbe auf besondere Weise der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht. Dort fand eine der letzten Kesselschlachten des Zweiten Weltkrieges statt; der Waldfriedhof ist eine aktive Kriegsgräberstätte. Das Erinnern richtet sich aber auch in die Familien hinein.
Von Dörthe Ziemer
Wenn Arnold Mosshammer über seine Erinnerungen an den Krieg spricht, dann erstreckt sich das über mehrere Jahrzehnte, Staatsgebilde und verschiedene Epochen von Erinnerungsarbeit. Als Zwölfjähriger hat er die Kesselschlacht von Halbe überlebt, der 60.000 Menschen, darunter 10.000 Zivilisten, zum Opfer gefallen waren. Während der Schlacht saß er vier Tage im Keller und, aus diesem wieder emporgekommen, erblickte er die Leichen, die übereinanderlagen, kaputtes Militärgerät und Zerstörung überall. Wer überlebt hatte, musste bei der Bergung und dem Begräbnis der Toten sowie bei der Beräumung der Militärgeräte helfen. Die Toten wurden meist an Ort und Stelle bestattet. Erst ab 1951 entstand dank des Engagements von Pfarrer Ernst Teichmann der Halber Waldfriedhof, auf dem bis heute sterbliche Überreste von Kriegsopfern, die anderswo geborgen werden, ihre Ruhe finden.
Die letzten Kriegstage bestimmten den Rest seines Lebens, sagt Arnold Mosshammer. Auch als heute 88-Jähriger wird er nicht müde davon zu berichten. „Ich möchte alles tun, damit nie wieder ein Krieg von deutschem Boden ausgeht“, sagt er. Doch zu den Erzählungen „über die Zeit vor, während und nach der Kesselschlacht“ kommen die Erinnerungen über die Zeit nach der Wende. Denn zunehmend missbrauchten um die 2002er Jahre Neonazis den Ort, an dem Tausende deutsche Wehrmachtssoldaten begraben sind, für ihr so genanntes „Heldengedenken“ und für Aufmärsche. „Alle Geschäfte in Halbe waren an solchen Tagen geschlossen“, erinnert sich Arnold Mosshammer. Viele Halber hätten hinter den Gardinen gestanden und zugeschaut. Nicht so er und eine Handvoll weiterer Mitstreiter, die sich diesen Demonstrationen entgegenstellen wollten. Wurden sie anfangs von der Polizei zurückgehalten, taten sich in den Folgejahren immer mehr Demokraten von der lokalen bis hin zur Landes- und Bundesebene zusammen.
Gesprächsrunde mit dem Zeitzeugen Arnold Mosshammer (M.) in Halbe. Foto: Karen Ascher
Aktionen wie Gegendemonstrationen, Straßenfeste, Konzerte, Lesungen folgten, bis schließlich 2005/06 in Brandenburg ein Gesetz erlassen wurde, wonach öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge auf Gräberstätten sowie in einem bestimmten Bereich der „unmittelbaren und engen räumlichen Nähe von Gräberstätten“ verboten sind. 2013 wurde vor dem Friedhof eine Freiluftausstellung eingeweiht, die über die Kesselschlacht von Halbe informiert. Es gab und gibt immer wieder Projekte mit Schülern, in denen die diese Geschichte eine Rolle spielt. Einmal, erzählt Arnold Mosshammer, habe ein Schüler durch seine Ausführungen erst begriffen, worum es in Halbe eigentlich ging. Vorher sei dieser junge Mensch bei den Aufmärschen der Neonazis dabei gewesen ohne zu wissen, wofür und bei wem er da mitmarschiert war. „Mir ist es eine Verpflichtung, so lange ich kann, über meine Erlebnisse zu berichten“, sagt Arnold Mosshammer, „um die Furchtbarkeit des Krieges zu verdeutlichen.“
Was den Menschen in Zeiten von Krieg, Zerstörung, Flucht und Wiederaufbau widerfahren ist, das ist nicht nur Gegenstand der offiziellen Gedenkarbeit. Zunehmend richten Kriegskinder und Kriegsenkel den Blick in ihre Familien. Das sind jene Generationen, die den Krieg nicht selbst erlebt haben, aber mit zum Teil traumatisierten Eltern aufgewachsen sind. Sie haben Eltern erlebt, denen es schwerfiel, über ihre Erfahrungen zu sprechen, oder die ganz darüber geschwiegen haben. Forschungen haben gezeigt, dass sich unverarbeitete Traumatisierungen auch auf Nachfolgegenerationen auswirken können. So ist es möglich, dass Menschen von Ereignissen belastet sein können, die bereits Jahrzehnte vor ihrer Geburt stattfanden. Der Begriff der „Kriegsenkel“ erlaube, sagt der Theologe Joachim Süß, „Erfahrungen des Scheiterns, existenzieller Brüche oder pathologische Erscheinungen vor dem Hintergrund der eigenen Familiengeschichte als transgenerationale Folgen traumatischer Erfahrungen der Eltern zu deuten und dadurch in einen anderen Verständnisrahmen einzuordnen“.
Das hat der Filmemacher Sebastian Heinzel erlebt. Bis er zehn Jahre alt war, hatte ihm einer seiner Großväter viel von seiner Zeit als Soldat in Russland erzählt, auch von einer Kesselschlacht. Dann starb der Opa, und durch die Art der Vermittlung von Geschichte in der Schule sei ihm das Interesse daran vergangen, sagt er. Später begann er sich für Osteuropa zu interessieren, machte dort Filme. Noch später begann er vom Krieg zu träumen. Dies war für ihn der Ausgangspunkt, seine Familiengeschichte zu erforschen, seinen Vater über dessen Vater zu befragen und schließlich den Film „Der Krieg in mir“ zu drehen. Er recherchierte an den Orten, an denen sein Großvater gekämpft hatte, und traf Menschen, die von den Taten der deutschen Soldaten an genau diesen Orten berichten konnten.
Wie geht man mit so einer Geschichte um? Mit Scham vor dem, was geschehen ist? Ist es Schuld, die man fühlt, oder Verantwortung? Darüber wurde nach einer Präsentation von Sebastian Heinzels Film in Halbe intensiv diskutiert. „In der Schule wurde mir eine Schuld vermittelt, die ich nicht spürte“, erklärte der Autor, warum er damals das Interesse an diesem Teil der Geschichte verloren hatte. Man müsse sich nicht auf der Seite der Schuldigen fühlen, entgegnete ein Zuschauer, aber es gelte, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen und von den Widerständlern zu lernen. Thomas Avenhaus, Autor von Texten zum Thema, erläuterte, dass man mit einer großen Scham vor der Geschichte stehe, aber als Nachgeborener keine Chance habe, da hineinzugehen. „Aus dieser Scham heraus haben es die Eltern vermieden, tief in die Erinnerungen einzusteigen“, so seine Erfahrung.
Um sich seinem Großvater, der im Volkssturm von Forst in der Lausitz in Richtung Halbe marschiert war und schließlich im Kessel von Halbe ums Leben kam, zu nähern, fuhr Thomas Avenhaus die Strecke mit dem Fahrrad ab. „Es war wichtig für mich, diese körperliche Erfahrung zu machen und nicht nur vor den Erinnerungen und den Fotos zu stehen“, erzählt er. „Das hat etwas in mir ausgelöst.“ Noch stärker in so eine körperliche Erfahrung ist Sebastian Heinzel eingetreten. Er hatte an einem Planspiel in Belarus teilgenommen, in dem Kriegsszenen nachgestellt werden. Er stieg dazu in die Uniform, wie sie sein Großvater getragen hatte. „Was löst es aus, wenn man eine Uniform trägt? Warum lächelte der Opa auf allen Kriegsfotos?“ – das waren die Fragen, auf die er dabei Antworten finden wollte. Der Spielverlauf sah vor, dass er „als Deutscher“ verwundet wurde. „In dem Moment hatte ich die Möglichkeit, alles rauszuschreien“, berichtet er. „Es war ein unkontrolliertes Schreien über das Widersprüchliche.“
Filmpräsentation mit Sebastian Heinzel. Foto: Dörthe Ziemer
Diese Art der Annäherung an die Geschichte wurde in der Diskussion in Halbe sehr kritisch, teils mit Befremden aufgenommen. Im Rahmen des Planspiels, das man mit therapeutischem Spielen vergleichen könne, habe er sich auch den mitspielenden Belarussen und ihren Blickwinkeln angenähert, sagte Sebastian Heinzel. „Was in Deutschland die Schuld ist, bedeutete für die Sowjetunion den Sieg“, schildert er seine Erkenntnis. So schwarz-weiß sei die Realität nicht, zugleich sei sie von eben dieser Polarisierung geprägt. „Auch heute sehen wir in unserer Gesellschaft extreme Lagerbildung. Das sind Anzeichen einer bipolaren, einer traumatisierten Gesellschaft“, sagt er.
Zuschauer der Filmpräsentation berichteten davon, dass sie heute, da der Krieg in der Ukraine tobt, plötzlich Namen von Orten hören, an denen ihre Väter oder Großväter gekämpft hatten oder gar dort begraben sind. Da sei ein Loch in ihrem Kopf, sagte eine Frau: entstanden aus dem, was in der Schule gelernt wurde, und aus dem heutigen Wissen über Flucht und Vertreibung. Wichtig sei, sagte Sebastian Heinzel, dass erst durch Erzählungen, Grau- und Zwischentöne Bewusstsein für das geschaffen werde, was passiert ist. Es gehe, ergänzte Thomas Avenhaus, nicht darum, ein moralisches Urteil zu fällen, sondern Geschichte zu begreifen, sie lebendig werden zu lassen. Das dürfe jedoch, wandte ein Zuschauer ein, nicht dazu führen, dass Taten entschuldigt oder relativiert werden. Am Ende, berichtete Sebastian Heinzel, waren die Arbeit am Film für ihn und seinen Vater der Weg dahin, dass sich ein innerer Frieden bei ihnen einstellen konnte.
Innerer Friede – das ist offenbar das, was vielen Kriegsenkeln fehlt: Viele Umzüge, häufige Jobwechsel prägen ihre Biografien. Auch die Journalistin Merle Hilbk schien lange auf der Suche – nach sich und nach dem Ort, an dem sie sich heimisch fühlt. Heimisch und bekannt kam ihr plötzlich ein Lied vor, das sie in Kasachstan auf der Straße hörte: Es war der Schlüssel zu ihrer russlanddeutschen Familiengeschichte, die ihr bis dahin unbekannt war. Bis dahin kannte sie nur ihre Faszination für den Osten, sie, die in Westdeutschland aufgewachsen war. „Uns fehlt das Wissen, was passiert ist, und das verunsichert enorm“, erklärt sie, warum sie begonnen hat, sich mit ihrer Familiengeschichte zu beschäftigen und sich in der Kriegsenkel-Bewegung zu engagieren.
Jahre später begegnete Merle Hilbk an der Oder einer Frau, die das Haus ihrer Familie verkaufen wollte. Die Polin erzählt von ihren Großeltern – und dass diese, aus dem ehemals polnischen Osten an die Oder zwangsumgesiedelt, sich dort nie zu Hause gefühlt hätten. Kein Wunder, waren sie doch in ein eben von Deutschen verlassenes Haus gezogen. Dort fanden sie deren Bettwäsche, deren Eingemachtes und deren Bild von der Jungfrau Maria über dem Bett vor. „Maria sieht uns“ – war ihr Satz und wurde zum Titel eines Doku-Theaterstücks, das Merle Hilbk nach dieser Begegnung geschrieben hat, das kürzlich in Halbe zu sehen war. Was macht man nun mit so einem Haus, in dem sich die Familie nur als Gast gefühlt hatte? In dem man viele Kindersommer verbracht hat? Kann man sich Heimat aussuchen, kaufen oder mieten? Das Haus kaufte sie nicht, es wurde eine Backpacker-Pension mit internationalen Gästen – ein europäisches Zentrum in der vermeintlichen Peripherie. Es kommt eben immer auf die Perspektive an…
"Maria sieht uns" - Dokutheater im Kaiserbahnhof Halbe
mit Joanna Auguri, Merle Hilbk und Thomas Avenhaus (v.l.).
Foto: Dörthe Ziemer
Wie sich Sichtweisen durch aktives Tun, beispielsweise durch Schreiben, verändern können, das vermitteln Merle Hilbk und Thomas Avenhaus in Schreibkursen. Mal lassen sie die Kursteilnehmer sich der eigenen Geschichte nähern, indem diese ohne Unterbrechung aufschreiben, was ihnen in den Sinn kommt. Dabei erkennt mancher, was ihn tief im Innersten wirklich bewegt. Mal sollen sich die Kursteilnehmer vorstellen, wie es wäre, wenn die Eltern oder Großeltern, an die eine Annäherung immer so schwierig schien, plötzlich vor der Tür stünden. Zum Schreibkurs in Halbe versammelte sich ein gutes Dutzend Interessierte – manche aus dem Ort, weil die Vorfahren eben jenen schrecklichen Kessel erlebt hatten. Andere kamen von weiter her – in der Ahnung, dass der Schlüssel zu ihrer Familiengeschichte ein nicht verarbeiteter Schmerz aus Flucht, Vertreibung und zugefügter oder erlebter Gewalt sein könnten. Fotos mit weggekratzten Uniform-Details, sprachliche Nebelfelder, Fremdheit in der eigenen Familie, Teiche, die einst Bombentrichter waren, oder der Satz „Ihr wisst ja nicht, wie das war“ prägen diese Geschichten.
Auf der Suche nach den Geschichten ihrer Familien sind auch viele von den Menschen, die Arnold Mosshammer während Führungen über den Waldfriedhof Halbe an seinen Erinnerungen teilhaben lässt. „Viele kommen, weil jemand aus ihrer Familie hier im Kessel von Halbe gefallen ist“, sagt er. Andere finden den Weg aus rein geschichtlichem Interesse. Sie bringen unterschiedliche Standpunkte zu Vergangenheit und Gegenwart mit – „je nach den Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen sind“, so die Beobachtung des Zeitzeugen. Auch der Wissensstand, mit dem sie kommen, sei höchst unterschiedlich. Und selbst die Zeitzeugen sehen die Dinge durchaus verschieden, hat er festgestellt. Die Berichte über die Kriege in der Welt, auch die aktuellen, dürften deswegen nicht aufhören. „Gerade erleben wir wieder, wie die Politik solchen Einfluss nimmt, dass die Menschen gegeneinander kämpfen“, sagt er mit Blick auf die Ukraine.
Skulptur „Trauernde“ des russischen Bildhauers Sergej Schtscherbakow.
Das Original steht auf dem russischen Soldatenfriedhof Rossoschka.
Foto: Karen Ascher
In all den Jahren, in dem sich Arnold Mosshammer in und mit dem Aktionsbündnis gegen Heldengedenken und Naziaufmärsche in Halbe engagiert hat, habe sich das Agieren der Polizei und die Einstellungen in der Gesellschaft gewandelt, sagt er. Anfangs wurden er und seine Mitstreiter gar als Nestbeschmutzer gesehen und vielfach bestand die Meinung „Lasst die doch marschieren“. Für ihn ein Unding: dass jemals wieder Nazis durch Halbe marschieren könnten. Doch zunehmend kamen mehr Menschen zu den Aktionen des Bündnisses, beteiligten sich Vereine und Gewerbetreibende an den Straßenfesten und mehr. „Es braucht einen Anstoß mitzumachen“, sagt Arnold Mosshammer. „Das Signal ist: Man kann etwas erreichen.“
Das ist bis heute so. Immer am Vorabend des Volkstrauertages lädt das Aktionsbündnis zu einem Konzert oder einer Lesung ein, in deren Mittelpunkt Menschen stehen, die unter der Gewaltherrschaft der Nazis gelitten haben, durch sie umgekommen sind oder die sich dagegengestellt haben.
Gedenken am oder zum Volkstrauertag
„Denn alles wird gut?“, 12. November, 17 Uhr, Kaiserbahnhof Halbe
Mit einem Liederabend des Trios „Gerade Frauen“ wird an die die jüdische Schriftstellerin und Dichterin Ilse Weber erinnert, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Neben vielen Dichtungen von ihr ist auch das Erinnern daran geblieben, dass sie im KZ eine Krankenstube für Kinder einrichtete und sich um diese kümmerte.
Zentrale Kranzniederlegung im Landkreis Dahme-Spreewald, 13. November, 11 Uhr, Dankes-Kirche Halbe/Waldfriedhof Halbe
Das stille Gedenken mit Kranzniederlegung findet öffentlich auf dem Waldfriedhof in Halbe statt. Ein Gottesdienst wird dem Gedenken vorausgehen.
79. Jahrestag der Errichtung des KZ-Außenlagers Lieberose, 13. November, 11 Uhr
11 Uhr: Jüdisch-christlicher Gedenkgottesdienst; Evangelische Landkirche zu Lieberose
13 Uhr: Wiedereröffnung des historischen Hörwegs „Im Wald und auf der Heide. Die Schicksale des Dorfes Jamlitz“; Justus-Delbrück-Haus | Akademie für Mitbestimmung Bahnhof Jamlitz
Hinweis zur Transparenz:
Ein Teil der Recherchen beruht auf einer Veranstaltungsreihe des Vereins Halbe.Welt, in dem sich die Autorin engagiert.
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