„Schön, dass du da bist“
75 Schulverweigerer gibt es derzeit in Dahme-Spreewald. Doch mitnichten haben diese Kinder einfach nur „keinen Bock“ auf Schule, sondern manchmal schwierigste persönliche Situationen zu bewältigen. Im Schulprojekt Groß Köris lernen einige von ihnen den Weg zurück in den Alltag.
Von Birgit Mittwoch
„Du bist meine Sonne.“
Miriam hört das gerne, obwohl sie gerade eher cool wirken will. Sie genießt die Aufmerksamkeit von Geografie-Lehrerin Susanne Korf – auch wenn es nur ein Rollenspiel im Unterricht ist.
„Und du bist meine Erde.“
Auch für Anne ist es gut, im Mittelpunkt zu stehen – als geografische Erde im Wechselspiel um Licht, Schatten, Wärme und Kälte.
Eigentlich ist das normaler Geografie-Unterricht, beide Schülerinnen stellen anschaulich Erde und Sonne dar, drehen sich umeinander, Licht und Schatten verändern sich dabei, Tag und Nacht, die Jahreszeiten entstehen, vergehen. Zu lange haben beide auf der Schattenseite des Lebens gelebt, jetzt bekommen sie Aufmerksamkeit, Ruhe und werden respektiert im „Schulprojekt“ auf dem Gelände des Kinder- und Jugenddorfes Rankenheim in Groß Köris.
Aufmerksamkeit und Ruhe finden - das sollen Kinder und Jugendliche im Schulprojekt Groß Köris. Foto: Peter Mittwoch
Außer Miriam und Anne ist nur noch eine weitere Schülerin im Klassenraum. „Drei“, sagt Susanne Korf, „das ist tatsächlich wenig.“ Aber auch wenn die beiden Erkrankten und eine Entschuldigte da wären, sind es nicht mehr als sechs Schülerinnen und Schüler, die sie in Lerngruppe 2 unterrichtet. Kleine Klassen und individuelle Zuwendung – das ist Konzept im „Schulprojekt“. Alle Kids, die hier unterrichtet werden, haben kleine und große familiäre und andere Probleme erlebt, die sich bei ihnen zu einem nicht mehr tragbaren Ballast geballt haben: emotionale und praktische Vernachlässigung, überforderte Eltern, Drogenprobleme, auch sexueller Missbrauch. Einige der Jugendlichen haben wochen-, auch monatelang den Schulbesuch verweigert oder waren nur unregelmäßig in ihren Klassen.
Susanne Korf, Leiterin des „Schulprojektes“ seit 2014, weitere Lehrerinnen und Lehrer der Grund -und Gesamtschule Schenkenland sind vorrangig für die aktuell zwölf Schülerinnen und Schüler und da, unterrichten aber ebenfalls noch an der Köriser Regelschule. Zwei Sozialpädagogen kümmern sich zusätzlich um die „Schulprojekt“-Schüler und -Schülerinnen.
Wie anspruchsvoll oder auch belastend ist es, mit den oft schwierigen Jugendlichen zu arbeiten? „Ich habe den schönsten Beruf der Welt“, sagt Susanne Korf und lächelt. „Die Kids sind sehr ehrlich, sagen dir auf den Kopf zu, was sie denken. Und für die Normalität, die Ruhe hier sind sie sehr dankbar. Es gibt bei uns einen autistischen Jungen, der schaut dich nicht an, spricht nicht viel, aber er sagt dir irgendwie trotzdem: ich mag dich. Das ist einfach ein tolles Gefühl“, so Susanne Korf.
In diesem Haus findet das "Schulprojekt" statt.
Projektleiterin und Lehrerin Susanne Korf.
Wohnhaus für die Kinder und Jugendlichen.
Alle Fotos: Peter Mittwoch
Um 7.45 Uhr ist Unterrichtsbeginn, ähnlich einer Regelschule. In der ersten Stunde gab es heute Deutsch, nach Geografie beginnt jetzt eigentlich der Matheunterricht. Marvin möchte nicht mitmachen. Sozialpädagoge Torsten Städtner setzt sich zu dem 14-jährigen Jungen an den großen Tisch in der Gemeinschaftsküche. „Eigentlich ist Mathe mein Lieblingsfach, aber heute nicht. Ich will lieber die Terrasse sauber machen“, ist sich Marvin sicher. „Willst du lieber hier in der Küche die Matheaufgabe lösen?“, bietet ihm Torsten Städtner an. Das Kopfschütteln nimmt ihm der Sozialarbeiter nicht übel. „Die Arbeit mit den Jugendlichen ist Beziehungsarbeit. Viele haben ein Trauma zu verarbeiten. Da helfen im konkreten Fall manchmal ein Tee, Ruhe, ein Gespräch. Dafür sind wir da.“
Neben Deutsch, Geografie, Mathe, Physik und Englisch gibt es täglich auch sogenannte Sozialstunden, berichtet Nicole Bullan. Sie ist ebenfalls Sozialarbeiterin im Projekt. „Die sind vielfältig, wir bieten Meditation an, schauen in Zeitungsartikel, es gibt Gesprächsrunden, Erholungsstunden, Bewegung, Spiele.“ Die Jugendlichen müssten sich erst selbst kennenlernen, ihre Besonderheiten erkennen, ihre Identität. „Das war in der Vergangenheit oft nicht möglich, wir helfen ihnen jetzt dabei“, erzählt die junge Frau, die seit sieben Jahren im „Schulprojekt“ arbeitet.
Immer um 10.30 Uhr setzen sich alle, Lehrerinnen, Jugendliche, Sozialarbeiterin und Sozialarbeiter zum gemeinsamen Frühstück zusammen. Heute haben Lona und Emil Tischdienst – Lona kommt ursprünglich aus Berlin, ist danach aber mehrfach umgezogen, hat lange die Schule verweigert. „Ich bin gerne hier“, erzählt sie und legt Käse und Wurstscheiben auf Teller, sortiert Tomaten und Gurkenscheiben in Schälchen. Emil, mit freundlichem Wuschelkopf, verteilt Teller und Becher auf dem großen Frühstückstisch, Frischkäse und heute sogar Räucherlachs. Die knackigen Brötchen lassen sich alle schmecken. Nur Marvin hat keinen Hunger, sagt er. Miriam, die „Sonne“, schneidet ihm ungefragt ein Brötchen auf und legt es, belegt mit Käse, auf seinen Teller. Jetzt hat Marvin doch Hunger.
Die Vorbereitungen für die gemeinsame Frühstückspause übernehmen
die Schülerinnen und Schüler abwechselnd. Foto: Peter Mittwoch
Die Jugendlichen, alle zwischen 13 und 15 Jahre alt, gehen auffallend freundlich miteinander um. „Eine gute Grundstimmung haben wir uns hier aufgebaut“, erzählt Sozialpädagoge Torsten Städtner, der seit 15 Jahren im „Schulprojekt“ arbeitet. Pünktlichkeit, Respekt, Konsequenz, keine Beleidigungen – die Kids schätzen die Regeln, haben sie vielleicht vorher vermisst.
Ab der 7. bis zur 9. Klasse werden die Jugendlichen im „Schulprojekt“ unterrichtet. Wer will, die nötige Stabilität und Leistungen zeigt, kann danach in der 10.Klasse der Grund- und Gesamtschule Schenkenland weiter lernen. „Viele der Jugendlichen hatten 70-100 schulische Fehltage im Jahr“, erzählt Torsten Städtner. „Aber hier bei uns kommen sie freiwillig in den Unterricht. Zuhause haben die Eltern nur noch hilflos reagiert, hier können die Kids plötzlich etwas, lernen gut, sind pünktlich.“
Marvin sitzt noch immer unschlüssig am Küchentisch, das Mathebuch aufgeschlagen vor ihm. Die Aufgaben will er immer noch nicht lösen. Viermal war er im Krankenhaus, weil er „ausgerastet“ sei und auch weil er depressiv war, berichtet er. Seinen Autismus haben sie Zuhause nicht wirklich ernst genommen.
Projektleiterin Susanne Korf unterrichtet inzwischen Lerngruppe 1 in Geografie: Sechs Jugendliche, dabei sind auch Lona und Emil. In den ersten zehn Minuten mussten sich alle auf einen Wissentest konzentrieren, jetzt sind wieder Sonne und Erde gefragt. Nadine stellt ihre Plüschfigur, die sie liebevoll Keil nennt, als Erde zur Verfügung. Sie achtet sehr darauf, dass Keil gut behandelt wird. Wieder das gleiche Spiel um Licht und Schatten, Jahreszeiten und Nordhalbkugel, Südhalbkugel. Nadine hat den Äquator erkannt. „Sehr schön, Nadine“, lobt Susanne Korf. Die Ergebnisse des kleinen Experimentes sollen sich nun alle notieren.
Sozialpädagoge Torsten Städtner und seine Kollegin ...
... Nicole Bullan sind für die Jugendlichen da. Fotos: Peter Mittwoch
Ein Junge sitzt stumm am Tisch, ohne Schreibblock und Stift. „Kann es sein, dass du hier heute unsichtbares Papier hast?“, fragt Frau Korf. „Ich brauche deine Unterrichtsmaterialien.“ Zögernd holt er einen Block aus der Schultasche. „Okay, soll ich´s dir aufzeichnen? Aber Beschriften wirst du selbst.“ Hilfe zur Selbsthilfe, das brauchen die Jugendlichen hier stärker als in der Regelschule. Am Ende zählt das Ergebnis. Lona hat ihre Aufzeichnungen schon weggepackt. Auf Bitte von Susanne Korf holt sie den zusammengefalteten, zerknitterten Zettel wieder heraus. „Naja, ich werde ja sehen, ob du das in der nächsten Woche draufhast“, meint die Projektleiterin augenzwinkernd, aber dennoch ernst.
Die Jugendlichen können im „Schulprojekt“ den Abschluss der 9.Klasse machen – haben damit die Berufsbildungsreife. Im letzten, also dem 9.Schuljahr, sind sie zwei Tage pro Woche beim sogenannten Praxislernen. Zum Beispiel in einer Fahrradwerkstatt, im Seniorenheim, im Autohaus. Im Glücksfall entwickelt sich daraus eine 2- oder auch 3jährige Lehrzeit und danach eine Übernahme in eine feste Anstellung. Doch das sind keine Einzelfälle.
Einrichtungsleiter Andreas Edler.
Schulleiterin Manon Hähnel. Fotos: Peter Mittwoch
Nicht alle Schülerinnen und Schüler wohnen auch im Kinder -und Jugenddorf Rankenheim (KJDR). Einige werden täglich von Zuhause per Auto gebracht oder fahren selbst mit Öffentlichen Verkehrsmitteln nach Groß Köris. Probleme mit der Pünktlichkeit gibt es keine. Die anderen wohnen auf dem weitläufigen Gelände am Zemminsee in betreuten Wohngruppen. Träger ist die Gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung Brandenburger Kinder und Jugendlicher (GfB), eine Einrichtung der staatlichen Jugendhilfe.
Andreas Edler ist Chef des KJDR. Vier Wohngruppen gibt es in Rankenheim, die jüngsten Kinder sind sechs Jahre alt. Diese Wohngruppen sind ähnlich wie in einer Familie aufgebaut, mit 24-Stunden-Betreuung. „Wir bieten den Kindern und Jugendlichen einen Rahmen und Sicherheit. Vielen fehlte bisher ein fester Bezugspunkt“, sagt Andreas Edler. „In den Wohngruppen haben alle ihre Aufgaben, es gibt sogenannte Ämterpläne, die schließen auch eine Beteiligung am Kochen und Wäsche waschen ein. Es gibt Gruppenrunden, Hilfe bei der Bewältigung des Alltags und der Hausaufgaben.“
Der Bedarf an Plätzen in Rankenheim ist in den letzten Jahren größer geworden. „Die schwierigeren gesellschaftlichen Herausforderungen bilden sich hier klar ab. Überforderte Eltern kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, nicht nur aus den sogenannten sozial schwachen Familien“, so Edler. Mit den Mitarbeitern vom „Schulprojekt“ gebe es eine sehr gute Zusammenarbeit, regelmäßige Teamberatungen, wöchentlich wird die aktuelle Entwicklung der Jugendlichen gemeinsam eingeschätzt, berichtet Andreas Edler. Die beiden Sozialpädagogen Nicole Bullan und Torsten Städtner sind bei der GfB angestellt, die Lehrer und Lehrerinnen des „Schulprojektes“ an der Grund- und Gesamtschule Schenkenland. Ein Gemeinschaftsprojekt.
Marvin sitzt noch immer am Küchentisch im Haus des „Schulprojektes“. Eine Matheaufgabe hat er inzwischen gelöst. Sozialpädagoge Torsten Städtner hat ihm dabei geholfen. Die Arbeit mit den Jugendlichen ist eben Beziehungsarbeit. Nach den Winterferien wird ein Sozialpädagoge Anne bei der Reintegration an der Grund- und Gesamtschule Schenkenland helfen. Sie hat den Schritt in die Regelschule geschafft, will dort ihren 10. Klassen-Abschluss machen. In den ersten Wochen ist bei Bedarf ein Sozialpädagoge an ihrer Seite, zuerst täglich, dann immer seltener. Anne wird es schon schaffen.
Die Schüler und Schülerinnen aus dem „Schulprojekt“ werden gut und ohne Vorurteile von ihren neuen Klassenkameradinnen aufgenommen, berichtet Schulleiterin Manon Hähnel. „Wir hatten sogar schon drei oder vier Jugendliche pro Jahrgang aus Rankenheim, die hier ihre 10. Klasse abgeschlossen haben. In manchen Jahrgängen habe es dagegen keine Schülerinnen oder Schüler gegeben, die eine Reintegration geschafft haben, so Manon Hähnel.
Susanne Korf hat vor einigen Tagen einen Anruf bekommen. Es ging um einen neuen Platz für einen Jungen im „Schulprojekt“. Sie freut sich auf ihren neuen Schüler: „Wir dürfen wieder helfen“.
(aus Gründen des Datenschutzes wurden im Artikel andere Vornamen für die Jugendlichen verwendet)
Allgemeine Informationen zu „Schulprojekten“
Landkreis Dahme Spreewald
Im Landkreis gibt es derzeit nach Informationen der Kreisverwaltung 75 Schulverweigerer, der Hauptanteil liegt dabei bei Ober- und Gesamtschulen, vereinzelt auch an Gymnasien. Die Schülerinnen und Schüler sind zwischen 12 und 18 Jahren alt, zunehmend gibt es aber auch Kinder an Grundschulen. (Quelle: Kreisverwaltung im Kreistag Dahme Spreewald, Dez. 2023)
Schulamtsbezirk Cottbus
Neben dem Köriser „Schulprojekt“ gibt es acht weitere Projekte unterschiedlicher Ausrichtung, beschult werden in diesen insgesamt 92 Schülerinnen und Schüler.
„Schulprojekte“ im Land Brandenburg
Einen umfassenden Überblick zu sogenannten „Schulprojekten“ im Land Brandenburg gibt es nicht. Das liegt an unterschiedlichen Ausrichtungen, unterschiedlichen Kooperationspartnern, unterschiedlicher Finanzierung solcher Hilfsprojekte.
Laut Kobra.net (Koordinierungs-, Beratungs- und Vernetzungstelle im Land Brandenburg) sind es ca. 40-50 spezifische Angeboten im Bundesland für problembehaftete Schüler mit differenzierten Ansätzen.
Schulprojekte im Zuständigkeitsbereich des Staatlichen Schulamtes Cottbus | ||||
Landkreis/Stadt | Schule | Name Projekt | Klassenstufe | Zahl Kinder |
Spree-Neiße | Berufsorientierende Oberschule Spremberg | "Sprungbrett" | 9/10 (übergreifend) | 13 |
Spree-Neiße | Gutenberg Oberschule Forst | "NIX e. V." | 9/10 (übergreifend) | 6 |
Spree-Neiße | Europaschule "Marie & Pierre Curie" Oberschule Guben | "Schulstation" | 9/10 (übergreifend) | 9 |
Cottbus | Sachsendorfer Oberschule | "Leonardos Meisterbude" | 9/10 (übergreifend) | 14 |
Elbe-Elster | Grund- und Oberschule "Johannes Clajus" Herzberg | "Produktives Lernen" | 9 | 16 |
Elbe-Elster | Grund- und Oberschule "Johannes Clajus" Herzberg | "Produktives Lernen" | 10 | 9 |
OSL | Bernhard-Kellermann-Oberschule Senftenberg | "Soziale Vielfalt" | 9/10 (übergreifend) | 13 |
LDS | Ludwig-Leichardt Oberschule
| "Holzwürmer" | 9/10 übergreifend) | 12 |
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