In die Augen schauen
Sven Herzberger wird neuer Landrat in Dahme-Spreewald. Mit 65 Prozent holte er offenbar seine und die Wähler von Susanne Rieckhof aus der ersten Runde wieder ab. Manche sprechen nun von der Rettung der oder vom Sieg für die Demokratie. Doch dazu braucht es mehr.
Ein Kommentar von Dörthe Ziemer
Das Erstaunlichste vorweg: Die Stichwahl brachte abgesehen von der ersten Nachkommastelle exakt das gleiche Ergebnis wie die Hauptwahl: Der AfD-Kandidat Steffen Kotré kam auf 35 Prozent der Stimmen, der parteilose Sven Herzberger auf 65 Prozent, was seinem und dem Anteil von Mitbewerberin Susanne Rieckhof (SPD) in der Hauptwahl entspricht. In der Summe gingen knapp 3.500 Menschen weniger zur Stichwahl - drei Prozentpunkte weniger als bei der Hauptwahl: ein guter Wert, verglichen mit mancher Bürgermeisterwahl, wo die Wahlbeteiligung zur Stichwahl um teils zehn Prozentpunkte oder mehr gesunken war.
Schild zum Wahllokal in Klein Köris. Dort holte Steffen Kotré 51 Prozent der Stimmen,
in Zützen 64,5 Prozent und in Neuendorf am See 71,6 Prozent. Foto: Dörthe Ziemer
Doch dass mancher vorab exakt die Rechnung aufgemacht hat, dass es der AfD-Kandidat in die Stichwahl schafft, auf dass das Feld zwischen den beiden Kandidierenden jenseits der AfD frühzeitig geklärt sei, erschreckt. In der ersten Hälfte des Wahlkampfes schien es, als arbeiteten sich Sven Herzberger und seine Unterstützer mehr an der Konkurrenz durch die SPD als durch die AfD ab. Immer wieder sprach etwa die Spitze des CDU-Kreisverbandes vom „Filz und Klüngel“ der SPD, davon, dass es eine „nicht mehr hinnehmbare Politik“ im Landkreis gebe, „die nicht mehr für, sondern gegen den Landkreis“ arbeite. In einigen Slogans auf Wahlplakaten wurden beide Mitbewerber gleichgestellt: „Sven Herzberger… Hilft gegen Filz und Flügel“ war da zu lesen. Oder: „Sven Herzberger… Alles andere ist Vergangenheit“. Sven Herzberger positionierte sich immer wieder zwischen einem „Weiter so“ und einer „rechtspopulistischen Alternative“.
Der Wettbewerb um die besten Ideen für die Herausforderungen,
die der Landkreis zu meistern hat, schien eingefroren.
Der AfD-Kandidat ging schließlich als Sieger aus der Hauptwahl hervor und konnte fünf weitere Wochen seine migrations- und fremdenfeindlichen Thesen unters Wahlvolk bringen. Der Wettbewerb um die besten Ideen für die Herausforderungen, die der Landkreis zu meistern hat, schien eingefroren. Steffen Kotré hat ihn – nachweislich in unseren Wahlkreisel-Runden – nicht bestanden. Ob Bahnverbindung von Schönefeld nach Luckau im Halbstundentakt oder App mit vernetzten ÖPNV-, privaten und ehrenamtlichen Mobilangeboten, ob Milchlieferungen aus der Region für die Region, Planungsgemeinschaft mit Kommunen zum Kita- und Schulbau oder Ehrenamtskoordinator in der Kreisverwaltung – über diese Ideen der anderen beiden hätte sich weiter trefflich diskutieren lassen.
Stattdessen – in Abwandlung eines Zitats von Steffen Kotré: Migration, Migration, Migration als Thema. Und keine Lösungen. Denn selbst wenn mehr Menschen abgeschoben würden, wie es sich Steffen Kotré als Landrat vorgenommen hätte: Die Zuwanderung in den Landkreis bliebe erhalten. Fast die Hälfte der Asylsuchenden haben derzeit einen Aufenthaltstitel, ein Großteil der übrigen besitzt gar noch keinen Status.
Wahlkreisel-Runde in Schönwalde. Foto: Karen Ascher
Angesichts dieser nun ausbleibenden Aussicht dürfen sich 65 Prozent der Wahlberechtigten und sicher ein paar mehr über das Wahlergebnis freuen. Mit dieser Deutlichkeit des Ergebnisses habe er nicht gerechnet, verriet Sven Herzberger gestern Abend gegenüber Brandenburg aktuell. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben nicht alle Dahme-Spreewälder, wie der Wahlsieger offenbar in der Euphorie des Abends sagte, „demokratisch für ein weltoffenes Dahme-Spreewald“ abgestimmt haben. Stabile 35 Prozent haben ihr Kreuz beim AfD-Kandidaten und damit bei einer Person gemacht, die Gedichte mit rechtsextremen Inhalten verfasst, dem rechten Flügel der AfD angehört und zum Thema Migration die wildesten Ideen hat – bis hin zum Bus, mit dem er Geflüchtete persönlich nach Berlin schaffen wollte.
Welchen Anteil der Rest der Partei- und Nicht-Parteianhänger
an den übrigen 35 Prozent hat: Wir wissen es nicht.
Hinzu kommt: Die anderen 65 Prozent der Wählerinnen und Wähler verteilen sich auf Anhänger mehrerer Parteien und Listen bzw. auf Menschen ohne parteipolitische Vorlieben. Vor dem Hintergrund der Wahlen im kommenden Jahr – Kommunal- und Europawahl im Juni, Landtagswahl im September – ist das eher beunruhigend denn euphorisierend. Am genauesten lässt sich daran der Anteil der SPD- und Grünen-nahen Wählerinnen und Wähler sowie derer, die für die Person Susanne Rieckhof stimmten, beziffern: Fast genau 30 Prozent hatte sie erreicht. Das ist angesichts des verpassten Einzugs in die Stichwahl eine Niederlage und zugleich jedoch ein Ergebnis, das in etwa kongruent zum Bundes- und Landestrend liegt. Welchen Anteil der Rest der Partei- und Nicht-Parteianhänger an den übrigen 35 Prozent hat: Wir wissen es nicht.
Zu welchen Gemeinsamkeiten sich die ersten vier Unterstützer Sven Herzbergers hinreißen lassen könnten: Auch das ist unklar. Immerhin reicht die Riege von den Linken über die FDP und die CDU bis zur Unabhängigen Bürgerliste (UBL), die ihrerseits aus vielen Gruppierungen besteht. Mitnichten war Sven Herzberger „unser“ Kandidat, wie es Jana Schimke beispielsweise vor der Stichwahl formulierte. Die CDU hatte, entgegen der Erwartung vieler, keinen eigenen Kandidaten aufgestellt. Sven Herzberger war von keinem der Parteiverbände nominiert worden und es ergab sich keine gemeinsame Listenvereinigung. Ihm wurde Unterstützung zugesagt, und Sven Herzberger landete schließlich als Einzelwahlvorschlag, für den er mehr als 100 Unterstützer-Unterschriften sammeln musste, auf dem Wahlzettel.
Im Kreis seiner Unterstützer: Sven Herzberger beim Wahlkampfauftakt im Sommer.
Foto: Dörthe Ziemer
Das bedeutete für den Kandidaten zugleich, dass er offenbar nicht auf ein festes Wahlkampfteam setzen konnte. Es offenbarte sich, dass der Status des parteilosen Einzelbewerbers Fluch und Segen zugleich scheint: Einerseits suggeriert er Unabhängigkeit, andererseits eben auch weniger organisierte Unterstützung, sowohl praktischer als auch inhaltlicher Art. Dass die CDU, Linke oder FDP beispielsweise auf ihren Social-Media-Kanälen Wahlkampf-Inhalte gespiegelt hätten: Fehlanzeige. Hierbei spielte sicherlich wiederum eine Rolle, dass es kein „eigener“ Kandidat der Parteien war, mithin die Entwicklung von Programmen völlig ausfiel. Parteilos zu parteilos - das wirkte bei der UBL schon organischer. Dort hing es von einzelnen Personen ab, wie präsent der Kandidat war. Das Social-Media-Team sowohl der SPD als auch der Grünen versuchten derweil die Themen sowie die Vor-Ort-Termine der Kandidatin breit zu spiegeln. Für Steffen Kotré, dessen Facebook-Profil als Bundestagsabgeordneter knapp 10.000 Follower hat, reichten offenbar ein paar polarisierende Videos.
Aber wie ernst nehmen die Parteien und Kandidierenden Social Media selbst? Und wie ernst sie ihre eigenen Themen?
Womit sich angesichts von rund 50 Prozent der Wahlberechtigten, die gar nicht gewählt haben, die Frage stellt: Wie und mit welchen Themen erreicht man die Wählerinnen und Nichtwähler überhaupt? Dass Soziale Medien eine zunehmende Rolle spielen, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Aber wie ernst nehmen die Parteien und Kandidierenden dieses Medium selbst? Und wie ernst sie ihre eigenen Themen? Das wird sich gut daran beobachten lassen, wie sich die Social-Media-Profile der Kandidierenden, aber auch der Parteien, zwischen den Wahlen entwickeln. Der 85. Jahrestag der Reichpogromnacht am 9. November beispielsweise – er fand nur bei SPD und Grünen statt.
Die Parteien werden sich auch am Umgang miteinander messen lassen müssen. Soll es künftig zum politischen Stil gehören, sich öffentlich nicht näher begründete Vorwürfe zu machen und immer wieder nachzutreten? Auf unsere Nachfrage wollte beispielsweise Björn Lakenmacher, Kreisvorsitzender der CDU, nicht ausführen, welche Beispiele er für „Filz“ nennen könne. Er bestätigte lediglich per Mail, dass er diese Sätze genauso gemeint habe. Jana Schimke antwortete gar nicht auf unsere Nachfrage. Noch am Abend der Hauptwahl bezeichnete Jana Schimke die „Abwahl“ der SPD im Landkreis als „Politikgeschichte“ und behauptete, dass „Filz und Klüngel“ nun ein Ende hätten. Nahezu zeitgleich erklärte Susanne Rieckhof als Unterlegene ihre Unterstützung für Sven Herzberger. Die CDU Dahme-Spreewald freute sich noch gestern Abend, es „gegen Filz und Flügel“ geschafft zu haben. Intensive Reaktionen zumindest in Sozialen Medien hatte es indes gegeben, als sich Susanne Rieckhof in einem gestreamten Wahlforum als „alternativlos zu einem Kandidaten, der Sprüche klopft und bis jetzt keine Leistung umgesetzt hat, und zu jemandem, der rechts ist und den Menschen Angst macht und sie spaltet“ bezeichnete.
Blick aufs Landratsamt: Der Ausgleichende. Wahlplakat von Sven Herzberger in Lübben.
Foto: Karen Ascher
Vor diesem Hintergrund dürfte das Ansinnen von Sven Herzberger, der Ausgleichende zu sein, so nötig wie herausfordernd sein und der Quadratur eines Kreises gleichkommen. Wie werden CDU und SPD künftig im Kreistag zusammenarbeiten, die bislang viele übereinstimmende Positionen hatten und häufig gemeinsam – zum Ärger der kleineren Fraktionen – abstimmten? Apropos kleine Fraktion: Wie werden die Grünen künftig mit der SPD agieren, da sie zwar keine gemeinsame Fraktion im Kreistag mehr haben, sich nach dem Tod ihrer Kandidatin Sabine Freund aber entschieden hatten, die SPD-Kandidatin zu unterstützen? Derweil scheint es seit der letzten Kreistagssitzung eine neue Fraktion zu geben: die der Bürgermeister im Landkreis. Gleich mehrere hatten die Einwohnerfragestunde genutzt, um ihre Positionen, u.a. zum auch im Wahlkampf umstrittenen Thema weiterführende Schulen darzulegen.
„Auf Augenhöhe“ – bedeutet in diesem Kontext vielleicht auch, dass man sich,
egal auf welcher Höhe, in die Augen schauen können muss.
Sven Herzberger möchte nun ausdrücklich zusammenführen und nicht spalten und mit allen – Kommunen, Kreistag und Bürgern – „auf Augenhöhe“ agieren und zu gemeinsamen Lösungen kommen. Doch ein Wahlergebnis von 65 Prozent der Wählenden sagt mitnichten aus, „dass alle Dahme-Spreewälder Vertrauen in die Demokratie haben und wissen, dass es gut ist, wenn man zusammenführt und nicht spaltet“, wie er es am gestrigen Wahlabend formulierte. Wie geht das überhaupt: „auf Augenhöhe“ – da die Entscheidungen für den Landkreis letztlich der Kreistag trifft, bei dem der Landrat eines von 57 Mitgliedern ist und die Bürgermeister formal außen vor sind?
„Auf Augenhöhe“ – bedeutet in diesem Kontext vielleicht auch, dass man sich, egal auf welcher Höhe, in die Augen schauen können muss: dass Fraktionen, Kreisverbände der Parteien plus Freie Wähler, Kommunen und Verwaltungen also aufrichtig und ehrlich – man möchte fast sagen: anständig – miteinander agieren. Das ist nicht nur für die weitere Entwicklung des Landkreises notwendig, sondern auch für das Superwahljahr 2024. Es gilt, Themen zu setzen, realistische Wahlprogramme zu formulieren und die Menschen damit zu erreichen. Es geht darum, für die eigenen Themen und das eigene Tun zu werben und nicht gegen etwas oder jemanden. Das setzt natürlich eigene Kandidaten voraus, aber es sind ja auch andere Wahlen...
Auf zur nächsten Wahl...
Wir Journalisten versuchen Neutralität und Objektivität zu wahren. Wobei schon die notwendige Auswahl von Fakten subjektiv sein muss, sprich: von einer oder mehreren Personen getroffen wird. Hinzu kommt, dass auch wir Journalisten Bürger sind und Wahlentscheidungen treffen (müssen).
Deshalb haben wir als Wokreisel besonderen Wert auf die Auswahl unserer Formate gelegt: Unsere Wahlkreisel-Runden waren ganz den Themen der Kandidierenden und dem Publikum gewidmet – wir als Journalisten haben uns auf unsere Rolle als Moderatoren zurückgezogen. Das führt dazu, dass manchmal zwei Aussagen nebeneinanderstehen: Er werde konsequent Geflüchtete abschieben, kündigte Steffen Kotré an. Das liege nicht allein in der Macht des Landrates, entgegneten die anderen beiden.
Als Journalist kann man einen Fakten-Check hinterherschieben. Das haben wir einmal ausprobiert. Wir haben auch Formen wie Reportagen und Analysen zur Wahl geschrieben und ein Themendossier erstellt. Zu guter Letzt nun dieser Kommentar. All das ist ein Versuch, der Komplexität der (Landkreis-)Welt auf unterschiedliche Art journalistisch in Inhalt und Form gerecht zu werden. Eines konnten wir sicher feststellen: Das Interesse an der Wahlkampfberichterstattung des Wokreisel ist kontinuierlich gestiegen - sowohl in der Zahl der Nutzenden als auch bei der Nutzungsdauer (Lesezeit).
, welche Formen der Wahlkampfberichterstattung Sie sich wünschen!
Worüber sollen wir im Vorfeld der Wahlen im kommenden Superwahljahr berichten? In welchen Formaten? Wie sehr schätzen Sie die Möglichkeit, mit Kandidierenden selbst ins Gespräch zu kommen?
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