Eine neue Inhaberin des Direktmandats – und zugleich ein bekanntes Gesicht: Sylvia Lehmann (SPD) hat bei der Bundestagswahl den Wahlkreis 62 gewonnen. Für die anderen Kandidat*innen ist nun mitnichten Schluss – für einige war der Wahlkampf sogar erst der Anfang.
Eine Wahlnachlese von Dörthe Ziemer
Es war sein erster Wahlkampf, sagt Andreas Beer, der als Kandidat für die Familienpartei angetreten war – und es wird nicht der letzte bleiben: „Wir als Familienpartei wollen uns jetzt mehr auf die Kommunalpolitik konzentrieren, also auf die Gemeinden, Städte und Landkreise – dort wo man an der Basis ist und konkrete Dinge bewegen kann.“ Den Landesverband Brandenburg gibt es erst seit zwei Jahren – entsprechend gering sind Wahlkampferfahrung und finanzielle Mittel. „Dafür, dass ich nur 112 Euro für 20.000 Flyer ausgegeben habe, bin ich mit dem Ergebnis persönlich sehr zufrieden“, sagt der 37-Jährige, der für seine Partei im Wahlkreis 1.815 Stimmen (0,9%) geholt hat. Bundesweit war er der einzige Direktkandidat und sorgte damit auch für das Bundesergebnis seiner Partei. „Was mich während des Wahlkampfes besonders beschäftigt hat, war der Umgang mit den Kandidaten der kleineren Parteien“, sagt er. Meist seien nur die „größeren“ neun vorgestellt worden. „Das war nicht fair den ‚kleineren‘ gegenüber.“
Auch Christiane Müller-Schmolt von der Tierschutzpartei, die im Wahlkreis 3,5 % der Stimmen holte, lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich weiter politisch engagiert. „Auch wenn es nicht das Ziel war, was ich mir gesetzt hatte, möchte ich weiter politisch arbeiten und noch mehr mit den Leuten ins Gespräch kommen“, resümiert sie. „Ich muss mir beruflich noch mehr Zeit freischaufeln, um den Menschen meine Vorstellungen zu unterbreiten.“ Beispielhaft berichtet sie von einer Situation beim Plakatieren: „Da kamen zwei ältere Damen mit Rollator zu mir und sagten: ‚Endlich mal eine Alternative zu den anderen Parteien, endlich jemand, den wir wählen können‘.“ Ähnliches haben Andreas Beer (Familienpartei) und Ralf Nobel von der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) erlebt. „In vielen Gesprächen habe ich erfahren, was die Leute bewegt und dass sie sehr enttäuscht von der aktuellen politischen Situation sind“, berichtet Andreas Beer. Und Ralf Nobel sagt: „Bewegend waren für mich die spontanen Gespräche beim Plakatieren, wenn mich Menschen auf diese für sie noch unbekannte Partei angesprochen haben.“
Für die ÖDP war das Wahlergebnis bundesweit schlechter als 2017. „Meine Erwartungen wurden nicht ganz erfüllt“, resümiert Ralf Nobel, der 441 Wähler und somit 0,2 % der Stimmen im Wahlkreis einsammeln konnte, was sich mit dem bundesweiten Ergebnis in etwa deckt. Damit fällt die ÖDP, genauso wie die Familienpartei oder die Piraten, nicht unter die staatliche Parteienfinanzierung, für die mindestens 0,5% der Stimmen geholt werden müssen. Hier kann sich die Tierschutzpartei freuen – mit 1,5% der Stimmen hat sie diese Hürde erneut genommen und ihr bundesweites Ergebnis um 0,6 Prozentpunkte verbessert.
Weniger zufrieden ist auch Steffen Kotré von der AfD, der mit der Erststimme 17,6 % holte und damit 2,7 Prozentpunkte unter dem Ergebnis von 2017 lag. „Das ist sogar weniger als im Landesdurchschnitt“, stellt er fest. Lag die AfD 2017 noch an zweiter Stelle im Wahlkreis, so ist es diesmal Platz 3. Als Fazit aus dem Wahlkampf zieht er deshalb, dass man „noch präsenter am Bürger dran“ sein und „mit noch mehr Leuten als bisher“ sprechen müsse. „Unsere Programmatik ist nicht so richtig bekannt, obwohl wir viele Infostände und einen Bürgerdialog unter freiem Himmel hatten.“ Manchmal könne man auch nicht identifizieren, woran das schlechtere Abschneiden gelegen hat. In besonderer Erinnerung werde ihm eine Begegnung im Bereich Gesundheitswesen bleiben, erzählt er: „Ich habe mit einer Dame aus dem Pflegebereich gesprochen, die über ihre Situation dort berichtet hat. Es ist schon heftig, was sich ein nicht armer Staat wie Deutschland in der Pflege leistet und wie wenig Geld da reingesteckt wird.“
Ähnlich ging es Carsten Preuß von den Linken. Ihn hätten besonders die Warnstreiks der Beschäftigten der Asklepios-Fachkliniken bewegt, berichtet er. „Seit Monaten laufen dort Tarifverhandlungen; bislang jedoch ohne Ergebnis. Dabei sind nach dem Applaus für das Pflegepersonal in der Corona-Krise die Probleme noch immer dieselben.“ Er hatte sich persönlich das Ziel gesetzt, ein zweistelliges Ergebnis im Wahlkreis zu erreichen, doch er kam auf 9,1 % und verzeichnete ein Minus von 7,3 Prozentpunkten im Vergleich zum Erststimmen-Ergebnis von 2017. Dennoch nehme er aus dem Wahlkampf viele Gespräche, Erlebnisse und Anregungen mit, die er nicht missen wolle. „Ich habe viele interessante Menschen auch mit ganz unterschiedlichen Lebenssituationen kennen gelernt, Betriebe und Einrichtungen konnte ich besuchen und viele Kontakte knüpfen.“ Weit unter dem Erststimmenergebnis von 2017 blieb auch Jana Schimke von der CDU, die 2013 und 2017 das Direktmandat geholt hatte – nachdem der Wahlkreis viele Legislaturperioden lang vom SPD-Politiker Peter Danckert gewonnen worden war. Jana Schimke kam diesmal auf 19,9 %, was einem Minus von 10,8 Prozentpunkten entspricht.
Diese drei Kandidierenden, die teils große Einbußen bei den Erst- und Zweitstimmen hinnehmen mussten, hingen offenbar ebenso an den bundesweiten Zweitstimmen-Ergebnissen wie die drei, die kräftige Zuwächse verzeichnen konnten. Einer davon ist Lars Hartfelder von der FDP. Er freue sich, mit 7,9 % einen Stimmenzuwachs von 3 Prozentpunkten geholt und damit eines der Wahlziele erreicht zu haben. „Das Ergebnis gibt uns weiter Aufschwung und viel Rückenwind für das nächste große Ziel: den Wiedereinzug in den Brandenburger Landtag“, sagt er. Als besondere Begegnung bleibe ihm das politische Speed-Dating mit Jugendlichen am Luckauer Bohnstedt-Gymnasium in Erinnerung. „Persönlich habe ich während des Wahlkampfes unschätzbare Erfahrungen gesammelt und viel gelernt“, fasst er zusammen und nennt damit übrigens eines der Motive für eine Kandidatur, die „kleinere Kandidaten“ von den etablierten unterscheidet: Erfahrungen für die weitere politische Arbeit zu sammeln. Rund 50 % der „kleineren Kandidaten“ (Füllkandidaten) und nur 29 % der aussichtsreichen Kandidaten gaben 2017 in einer Untersuchung von Oliver Kannenberg und Daniel Hellman vom Institut für Parlamentarismusforschung dieses Motiv für ihre Kandidatur an.
Auch Gerhard Kalinka von Bündnis 90/Grüne setzt auf langfristige Effekte. „Es ist richtig, zentrale Fragen der Zukunft anzusprechen, auch wenn diese zuweilen unbequem sind“, sagt er und stellt fest, dass vor diesem Hintergrund grüne Inhalte „offenbar keine Selbstläufer“ seien. „Es ist daher wichtig, vertrauenswürdige und kompetente KandidatInnen aufzustellen.“ Für ihn seien sein Erststimmen-Ergebnis von 7,1 % (plus 2,7 Prozentpunkte) und 8,4 % (plus 3,8 Prozentpunkte) bei den Zweitstimmen im Wahlkreis „klare Erfolge“. Man habe sich fast verdoppelt. „Wir Grüne sind nun erkennbar eine stabile und stetig wachsende politische Größe im Wahlkreis“, resümiert er. Gern erinnert er sich an einen Wahlkampfstand in Lübbenau, wo Bündnis 90/Grüne nicht so stark ist: „Es waren viele Senioren unterwegs und mich hat bewegt, wie interessiert sie an uns waren“, erzählt er.
Sylvia Lehman konnte ihr Ziel, das Direktmandat zu gewinnen, mit 26,5 % der Erststimmen (ein Plus von 6,9 Prozentpunkten) im Wahlkreis 62 erreichen. „Dabei war es mir wichtig, eine faire, ansprechbare, mich den Anliegen von Menschen widmende Abgeordnete zu sein“, sagt sie. „Ich war bedacht, Demut zu wahren.“ Denn sie lag 2017 deutlich hinter Jana Schimke und knapp hinter Steffen Kotré zurück. „Nun haben mir die Wählerinnen und Wähler umso deutlicher ihr Vertrauen ausgesprochen. Dieses Vertrauen begreife ich als meinen Auftrag.“ Menschen spürten sehr genau, ob sie gemeint sind oder ob es Kandidierenden darum geht, Stimmen „einzusammeln“ – so ihre Erfahrung aus diesem Wahlkampf. „Seit 2019 habe ich eine kontinuierliche und intensive, wenngleich weniger auf Öffentlichkeit ausgerichtete Wahlkreisarbeit geleistet. Gerade auch während der Lock-Downs. Das haben sich viele Menschen gemerkt.“ Als Begebenheit werde ihr deshalb dies in Erinnerung bleiben: „Einen Feuerwehrmann aus Eichwalde hörte ich in einer Gesprächsrunde zu seinem Nachbarn sagen: ‚Frau Lehmann kommt auch ohne Wahlkampf und kümmert sich.‘“ Aus den „teils schonungslosen Gesprächen, die Einblicke in persönliche Lebenssituationen oder die Lebenswirklichkeiten von Firmen, Betrieben, Institutionen, und Verbänden“ nehme sie nun zahlreiche Aufgaben in den Bundestag mit.
Bleibt die Frage, welche Koalition es denn nun auf Bundesebene werden soll. „Von meiner Wunschkoalition sind wir weit weg“, sagt Andreas Beer und lässt offen, welche das ist. Carsten Preuß formuliert es drastischer: „Meine Wunsch-Koalition ist mit dem Wahlergebnis rechnerisch unmöglich geworden. Ich befürchte, dass in Sachen soziale Gerechtigkeit, Frieden und Klimaschutz mit der zu erwartenden Koalition vier verlorene Jahre vor uns liegen. Ich hätte aber in diesem Fall gern unrecht.“ Für Steffen Kotré ergibt sich aus dem vorliegenden Wahlergebnis keine denkbare Koalition – er verweist auf das eigene Parteiprogramm und stellt fest, dass sich die möglichen Koalitionsparteien nur in Nuancen unterschieden. Das sieht Christiane Müller-Schmolt ganz anders, die „auf alle Fälle nicht die CDU“ in der Regierung sieht. Bleibt die Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90/Grüne und FDP – obwohl letztere wiederum von den Inhalten der Tierschutzpartei zu weit entfernt sei.
Lars Hartfelder formuliert es pragmatisch: Er wünsche sich „die Koalition, bei der wir am besten unsere Ziele und Werte einbringen und umsetzen können“. Folgt man Gerhard Kalinka und Sylvia Lehmann, wird dies die Ampel sein. „Eine Regierung muss wohl oder übel Grün-Gelb beinhalten. Als weiterer Partner wäre mir persönlich die SPD lieber als die CDU“, sagt der BündnisGrüne, während Sylvia Lehmann sich „vor dem Hintergrund des Wahlergebnisses eindeutig eine Ampel-Koalition“ wünscht. Weniger in Farbspielen gedacht, könnte sich die nächste Bundesregierung am Ende womöglich doch an das zweite Wahlziel von Carsten Preuß annähern: „Mein Ziel war es, für den sozial-ökologischen Umbau zu werben und diesen mehrheitsfähig zu machen.“ Und Gerhard Kalinka ist zuversichtlich, „dass Demokraten eine konstruktive Regierung bilden können, in der sich alle wiederfinden. Im Land Brandenburg geht eine Dreier-Koalition ja auch“. Das leichte Plus bei der Wahlbeteiligung im Wahlkreis 62 von 1,5 Prozentpunkten im Vergleich zu 2017, nämlich 76,9 %, sollte dazu Ansporn sein…