Ein Landkreis muss den Finanzbedarf der Gemeinden zur Festsetzung der Kreisumlage ermitteln. Das bestätigt ein aktuelles Gerichtsurteil. Die Frage ist: Wie? Warum Richter manchmal „weit weg von der Praxis“ sind und ob es Gesetzeslücken gibt, fragen wir den Berliner Verwaltungsrechtler Dr. Ulrich Becker.
Von Dörthe Ziemer
Die Gemeinde Eichwalde hat die Klage gegen den Kreisumlagebescheid 2019 über rund 2,8 Millionen Euro vor dem Verwaltungsgericht Cottbus gewonnen. Der Landkreis sei seinen verfassungsrechtlichen Ermittlungspflichten zum Finanzbedarf der Städte und Gemeinden im Haushaltsjahr 2019 nicht vollumfänglich nachgekommen, heißt es im Urteil. Der Landkreis hat nach einem Kreistagsbeschluss die Zulassung zur Berufung beantragt. Der Bürgermeister der klagenden Gemeinde hält das für nicht notwendig. Was bedeutet das Urteil und wie geht es weiter? Das haben wir mit Dr. Ulrich Becker, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht, besprochen.
In welcher Weise ein Landkreis den Finanzbedarf der Gemeinden zur Festsetzung der Kreisumlage ermittelt, ist nicht im Einzelnen vorgegeben. Die Länder sind zuständig, das Verfahren näher zu regeln. Vor dem Hintergrund solcher Klagen wie der aus Eichwalde: Gibt es in Brandenburg eine Gesetzeslücke?
Eigentlich nicht. Gerade das Land Brandenburg hat relativ viel geregelt, mehr als andere Bundesländer. Die Unsicherheit, die heute besteht, geht im Wesentlichen auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes von 2013 zurück. Vorher gab es kaum Probleme. Dann wurde zum ersten Mal gesagt, dass sich Landkreise bei der Erhebung der Kreisumlage informieren müssen, wie es den kreisangehörigen Gemeinden finanziell geht. Die Frage ist: wie? Ich kenne kein Bundesland, das hier genaue Vorgaben macht. In Brandenburg gibt es die Regelung, dass der Landkreis alle Gemeinden anhören und ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben muss. Außerdem ist seit Mitte 2022 auch ausdrücklich vorgesehen, dass der Landkreis den Finanzbedarf der Gemeinden ermitteln und gleichrangig mit dem eigenen berücksichtigen muss. Ein Regelungsdefizit sehe ich eigentlich nicht.
Es gibt inzwischen viele Urteile, die Kreisumlagebescheide für nichtig erklären, weil der Finanzbedarf der Kommunen nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Der Urteilsspruch im aktuellen Fall bezieht sich auf ein Urteil aus dem Jahr 2021, was also nach der Klage aus dem Jahr 2019 gefällt wurde… Konnte der Landkreis damals, als die Daten erhoben wurden, es nicht besser wissen?
Das kann man so nicht sagen. Es wird zwar Bezug genommen auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem Jahr 2021. Die Rechtsprechung dazu hat aber schon 2013 angefangen. Das wurde dann in weiteren Entscheidungen konkretisiert. 2021 wurde erstmals gesagt: Die Kreise dürfen nicht nur auf die Zahlen des Vorjahres zurückgreifen. Es müssen die aktuellen Planzahlen einbezogen werden.
"Für den Kreis ist es superschwierig, wenn die Gemeinden zum Jahresende mit ihren Haushaltsaufstellungen noch nicht so weit sind. Da ist die Rechtsprechung leider etwas blauäugig."
Wie soll das funktionieren, wenn noch nicht alle Gemeinden mit der Haushaltsplanung so weit sind?
Da tasten alle noch herum. Für den Kreis ist es superschwierig, wenn die Gemeinden zum Jahresende mit ihren Haushaltsaufstellungen noch nicht so weit sind. Da ist die Rechtsprechung leider etwas blauäugig. Die Frage ist dann, welche anderen Kennzahlen der Landkreis ermitteln und berücksichtigen muss.
Das aktuelle Urteil schlägt für solche Kriterien beispielsweise den Stand der Aufgabenerfüllung, insbesondere bei der Infrastrukturausstattung, die Belastungen aus Kreditaufnahmen usw. vor.
Dahme-Spreewalds Landrat Stephan Loge befürchtet, mit Erhebungen dieser Art in die Selbstverwaltung der Kommunen einzugreifen. Zu Recht?
Eigentlich nicht. Der Landkreis ist ja auch Kommunalaufsicht, d.h., er überwacht die Haushaltsführung der Gemeinden und muss Kredite oder Verpflichtungsermächtigungen genehmigen. Der Landkreis ist mit den Haushalten und der finanziellen Situation seiner kreisangehörigen Gemeinden nicht nur im Zusammenhang mit der Kreisumlage befasst. Richtig ist aber, dass es die Kommunen nicht so gerne haben, wenn der Kreis ihnen beispielsweise notwendige Einsparungen nahelegt. Hier besteht ein strukturelles Spannungsverhältnis.
"Der Landkreis bekommt schließlich für das nächste Haushaltsjahr Geld und muss seinen eigenen Finanzbedarf ordnungsgemäß entwickeln. Daher führt kein Weg daran vorbei, dass er auch von den Gemeinden aktuelle Daten erhebt."
Die Prüfung dieser Kriterien muss zwangsweise prognostisch sein, also in die Zukunft blicken, heißt es im Urteil. Diese Prognoseentscheidung sei vom Verwaltungsgericht nur eingeschränkt überprüfbar. Hier lesen also alle in der Glaskugel… Inwiefern kann auf dieser Grundlage überhaupt eine realistische Entscheidung getroffen werden? Der Rückgriff auf das Vorjahr scheint da konkreter zu sein…
Die Vorausschau ist zwingend. Die Betrachtung des vorangegangenen Jahres reicht nicht aus. Der Landkreis bekommt schließlich für das nächste Haushaltsjahr Geld und muss seinen eigenen Finanzbedarf ordnungsgemäß entwickeln. Daher führt kein Weg daran vorbei, dass er auch von den Gemeinden aktuelle Daten erhebt.
Die Prüfung des aktuellen Finanzbedarfs der Kommunen durch den Kreistag im Rahmen der Haushaltsbeschlusses erscheint aufgrund so vieler Kriterien zum Finanzbedarf der Gemeinden sehr umfangreich. Ist das im Ehrenamt überhaupt zu schaffen?
Rechtlich ist das klar: Dem Kreistag muss die Bedarfsermittlung für jede Kommune vorgelegt werden. Die kommunale Selbstverwaltung beruht auf der positiven Annahme, dass die ehrenamtlichen Kommunalpolitiker solche Dinge entscheiden können. Dies wird von der Verwaltung und in den Ausschüssen vorbereitet. Wenn das gut aufbereitet ist, kann man auch als Laie Fragen stellen, wo einem etwas nicht so plausibel vorkommt. Letztlich soll die Erhebung des Finanzbedarfes so aufbereitet werden, dass es einen Überblick mit ein, zwei Zahlen pro Gemeinde gibt. Es gibt andere Entscheidungen des Kreistages, die komplizierter sind.
"Bei der Kreisumlage ist es so, dass nicht der, der über das Geld verfügt, über die Höhe der Umlage entschiedet, sondern der, der das Geld braucht. Das ist im System des Finanzausgleichs eher ungewöhnlich."
Im Urteil wird auch vorgeschlagen, die Erhebungsgrundlage unterjährig zu prüfen. Die Kreisumlage könnte sich dann womöglich im laufenden Haushaltsjahr ändern. Dieser Weg wäre vielleicht gerechter, aber mit mehr Unsicherheiten für die Kommunen verbunden. Ist es dennoch der bessere Weg?
Im Moment ist es so, dass man die Kreisumlage im laufenden Haushaltsjahr nur bis zum 30. Juni erhöhen darf, senken geht natürlich immer. Das ist ein allgemeines haushaltsrechtliches Prinzip. So ist es ja auch privat: Wenn man feststellt, dass man zu viel Geld ausgibt oder mehr Geld benötigt, muss man nachsteuern.
Grundsätzlich halte ich die jetzige Form der Kreisumlage für schwierig: Die Kreisumlage ist Element des Finanzausgleichs. Der größte Spieler beim Finanzausgleich ist (nach dem Bund) das Land – es stellt den Gemeinden und den Landkreisen Geld für die Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung.
Mit der Kreisumlage wird Geld im kommunalen Raum hin- und hergeschoben. Bei der Kreisumlage ist es nun aber so, dass nicht der, der über das Geld verfügt, über die Höhe der Umlage entschiedet, sondern der, der das Geld braucht. Das ist im System des Finanzausgleichs eher ungewöhnlich.
Wie bewerten Sie das aktuelle Urteil für das künftige Handeln von Kreisen und Kommunen?
Ich glaube, dass sich Stück für Stück auf kommunaler und kreislicher Seite eine gute Praxis entwickelt, sodass solche Klagen überflüssig werden. Sie belasten das Verhältnis zwischen Kreis und Kommunen, die letztlich in vielen Dingen auf eine gute Kommunikation untereinander angewiesen sind. Die Kreisumlage geriet in den letzten Jahren leider zu einem Spaltpilz, der Unruhe und Unfrieden in die kommunale Familie gebracht hat.
Wenn das Erhebungsverfahren eines Landkreises einmal gerichtlich akzeptiert wird, bildet sich sicher eine Art Matrix heraus, an der sich die Praxis orientieren kann. Daher hoffe ich, dass in zwei bis drei Jahren die Kriterien klarer sind. Weder Kreise noch Kommunen machen mutwillig etwas falsch. Aber man tut sich schwer, das, was das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, umzusetzen. Schließlich hat das Bundesverwaltungsgericht nur gesagt: So geht es nicht, nicht aber, wie der Finanzbedarf ordnungsgemäß zu ermitteln ist. Das Bundesverwaltungsgericht ist nach meinem Dafürhalten etwas weit weg von der Praxis. Der aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts resultierende Ermittlungsaufwand ist für die Kreise sehr erheblich.
"Wenn das Erhebungsverfahren eines Landkreises einmal gerichtlich akzeptiert wird, bildet sich sicher eine Art Matrix heraus, an der sich die Praxis orientieren kann."
Das aktuelle Urteil hat also nicht die erwünschte Klarheit gebracht? Der Landkreis hat ja u.a. deswegen Berufung beantragt, um mehr Klarheit zu bekommen.
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Cottbus liest sich plausibel. Ob sie im Tatsächlichen dem zu beurteilenden Sachverhalt gerecht wird, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, dass sich Kreis und Kommune noch aufeinander zubewegen. Das ist auch bei derartigen Auseinandersetzungen oft sachgerecht.
Weil in Brandenburg mehrere Gemeinden mit Klagen gegen die Kreisumlage erfolgreich waren, hat der Gesetzgeber Heilungsmöglichkeiten ins Gesetz aufgenommen: Seit Juni 2022 gibt es die Möglichkeit, das Ermittlungsverfahren zu wiederholen und die Kreisumlage neu festzusetzen. Der Kreis muss dann alle Umlagegrundlagen neu ermitteln, die Kommunen neu beteiligen und vom Kreistag den neuen Hebesatz beschließen lassen. Allerdings darf dabei keine Erhöhung der Kreisumlage geltend gemacht werden. Einen neuen Kreisumlage-Bescheid gibt es dann nur für die klagende Gemeinde. Für alle anderen, nicht klagenden Gemeinden verbleibt es bei den bestandskräftigen Bescheiden.